Nach Erhalt der Diagnose stellt sich für Angehörige sofort die Frage nach Therapie- und Fördermöglichkeiten für die Betroffenen. Neben nicht medikamentösen Therapieoptionen wie Logopädie oder Physiotherapie gibt es seit einigen Jahren Erfahrungen zur off-label1 Anwendung von intranasalem Insulin, hierzu auch bislang zwei publizierte Studien mit kleiner Fallzahl bei PMD. Dabei wird mittels eines Nasensprays Insulin in einer individuell gewichtsadaptierten Dosierung mehrmals am Tag verabreicht. Die Hypothese zur Wirksamkeit besteht in einem Übertritt des Medikamentes über die Blut-Hirnschranke über die Riechschleimhaut sowie die Riechnerven. Bei manchen, jedoch nicht allen Patienten, können sich über viele Wochen positive Effekte auf Verhalten, sowie auf kognitive und motorische Fähigkeiten zeigen.
1 „off-label use“ bezeichnet die Verordnung eines Fertigarzneimittels außerhalb des durch die Arzneimittelbehörden zugelassenen Gebrauchs. Die Verwendung kann im Anwendungsgebiet oder der Anwendungsart von der Zulassung abweichen. Im Deutschen spricht man dabei von zulassungsüberschreitender Anwendung. Quelle: Wikipedia
Wissenschaftliche Grundlagen und Wirkung
Nach aktuellem Wissensstand liegt bei den meisten Patienten mit PMD ein Mangel des Gerüstproteins Shank3 vor, mit der Folge einer synaptischen2 Fehlfunktion und eingeschränkter Kommunikation zwischen Nervenzellen. Hierbei weisen die neuesten Studien darauf hin, dass nicht nur Nerven-, sondern auch weitere Organsysteme von diesem Mangel betroffen sind. Seit mehreren Jahren wird international geforscht, inwieweit Mutationen des SHANK3-Gens ausgeglichen und damit die verringerte Produktion des gleichnamigen Proteins substituiert werden können. Positive Erfolge zeigt hierbei die Anwendung von intranasalem Insulin. Im Jahr 2009 wurde erstmals bei einer kleinen Patientenzahl von 9 Probanden gezeigt, dass die Therapie einen individuellen Effekt auf die Entwicklung haben kann (Schmidt et al., 2009). Prof. Schmidt, ein Kinderarzt aus München, hat im Rahmen der off-label Anwendung von intranasalem Insulin inzwischen Erfahrungen von über 10 Jahren mit PMD-Patienten. 2016 ist zu diesem Thema eine weitere Studie aus den Niederlanden erschienen (Zwanenburg et al, 2016). In letztgenannter Studie wurden 25 Kinder mit Phelan-McDermid-Syndrom über einen Zeitraum von 18 Monaten im Hinblick auf ihre Entwicklung unter Gabe von intranasalem Insulin untersucht, wobei die Patienten zur Hälfte ein Placebo, zur Hälfte das Insulin erhielten. Es zeigte sich, dass Insulin in einigen Teilbereichen der Entwicklung (z.B. Kognition, Sprache, Feinmotorik, kommunikative Fertigkeiten, Alltagsfertigkeiten) einen positiven Effekt haben kann, wobei einschränkender Weise erwähnt werden muss, dass auch einige Patienten nicht von der Therapie profitierten und aufgrund der kleinen Fallzahl keine statistische Auswertung vorgenommen werden kann.
2 Synapse bezeichnet die Stelle einer neuronalen Verknüpfung, über die eine Nervenzelle in Kontakt zu einer anderen Zelle steht – z.B. einer Muskelzelle oder einer anderen Nervenzelle. Quelle: Wikipedia
Hintergrund der Insulintherapie
Die Gabe von Insulin mittels Nasenspray kommt ursprünglich aus der Forschung für Alzheimer- und Diabetespatienten. Bei ersteren in der Hoffnung, die neuronale Plastizität3 und Gedächtnisfunktion des Gehirnes zu beeinflussen. Bei Diabetespatienten forschte man mit der Intention, eine einfachere Verabreichung des Insulins zu ermöglichen. Bei beiden Zielgruppen konnte die angestrebte therapeutische Wirkung nicht erzielt werden. Bei den Diabetespatienten zeigte sich, dass sich das Insulin intranasal verabreicht nicht auf den Blutzuckerspiegel auswirkt, was wiederum einen Vorteil für den Einsatz bei PMD-Patienten darstellt.
3 Unter neuronaler Plastizität versteht man die Eigenart von Synapsen, Nervenzellen oder auch ganzen Hirnarealen, sich zwecks Optimierung laufender Prozesse nutzungsabhängig in ihrer Anatomie und Funktion zu verändern. Quelle: Wikipedia
Nebenwirkungen
Im Rahmen der Studien sowie durch die Erfahrungen der off-label Anwendung über mehr als 10 Jahre konnten bislang keine relevanten Nebenwirkungen erfasst werden. Vereinzelt kommt es zu Nasenbluten und gereizter Nasenschleimhaut nach längerfristiger Gabe, sodass sich zwischen den Anwendungen von Insulin Dexpanthenol-haltige Sprays oder eine Nasensalbe zur Pflege der Nasenschleimhaut eignen. Manche der Patienten entwickeln Schlafstörungen oder sind Verhaltensauffällig im Sinne einer motorischen Überaktivität. Diese Phänomene treten insbesondere in der Anfangsphase der Therapie auf. Ob in diesen Fällen eine Fortführung der Therapie erfolgen sollte, muss individuell entschieden werden. Darüber hinaus empfinden manche Patienten den Geruch des Medikamentes als unangenehm.
Medizinische Begleitung und Erfolgskontrolle
Das Insulin sollte sich nicht auf den Blutzuckerspiegel auswirken, es kann jedoch bei individuellem Wunsch in der initialen Phase der Eindosierung eine regelmäßige Blutzuckerkontrolle unter ärztlicher Aufsicht ambulant oder stationär erfolgen.
Vor Beginn der Therapie ist es ratsam, einen Fremdbeurteilungsbogen zum entwicklungsneurologischen Stand auszufüllen, um den status quo vor Therapie festzuhalten. Dieser wurde von Prof. Schmidt eingeführt und umfasst Teilbereiche wie Grob- und Feinmotorik, Kognition, Emotion, Sprache usw. Es hat sich als sinnvoll erachtet, diesen in 6-monatigen Abständen zu wiederholen, um mögliche Effekte der Therapie objektivieren zu können. Sollten sich nach einem Zeitraum von mindestens 6 Monaten unter Therapie keine Effekte ergeben, sollte eine Beendigung der Therapie diskutiert werden.
Nach etwa 3-6 Monaten unter Therapie empfiehlt sich, ein Laborkontrollen mit folgenden Parametern durchführen zu lassen: kleines Blutbild, nüchtern Blutzucker, HbA1c, Insulin Auto-Antikörper, GOT, GPT, Kreatinin, TSH.
Infos zur genauen Zusammensetzung des Insulinsprays und zur medizinisch-kontrollierten Einführung finden Sie hier:
Deutschland
PD Dr. med. Sarah Jesse, Universitätsklinikum Ulm, Abteilung Neurologie, Oberärztin im Rahmen der Interdisziplinären Spezial-Sprechstunde, Schwerpunkte Intensivmedizin, Notfallmedizin, ABS-Expertin, Tel: 0049-(0)731/177–5243
E-Mail: sarah.jesse@uni-ulm.de
Prof. Dr. med. Heinrich Schmidt, Dr. von Haunersches Kinderspital, Kinderklinik und Kinderpoliklinik der Ludwig Maximilian Universität München, Lindwurmstr. 4, 80337 München
E-Mail: Heinrich.Schmidt@med.uni-muenchen.de
Priv.-Doz. Dr. med. Markus Rauchenzauner, MSc, Klinikum Kaufbeuren, Chefarzt der Abteilung Pädiatrie, Schwerpunkte: Epilepsien, Entwicklungsstörungen, Bewegungsstörungen und Muskelerkrankungen, Entwicklungsneurologische Untersuchung, usw., Dr.-Gutermann-Straße 2, Tel: 0049-(0)8341/42-2206
E-Mail: Markus.Rauchenzauner@kliniken-oal-kf.de
Österreich: in Arbeit
Schweiz: in Arbeit
Autor: © Phelan-McDermid-Gesellschaft e.V., 2020